zurück

Viel Museum, wenig Inhalt
Ein besorgter Rückblick auf das Museumsjahr 2011, DIE ZEIT vom 29.12.2011

Solange wir noch die Trümmer der Vergangenheit besuchen können, so lange hat das Leben immer auch noch eine Farbe«, hat Heinrich von Kleist einmal gesagt. Heute finden wir die Zeugnisse unserer Geschichte – Glanz wie Elend – in unseren Museen. Aber auch über ihnen liegen Licht und Schatten, und die Schatten zeigten sich selbst in dem spektakulären Museumsjahr 2011, in dem eine Reihe der renommiertesten Häuser ihren Geburtstag feierte: den 175. die Alte Pinakothek in München, den 150. die Berliner Nationalgalerie und das Wallraf-Richartz-Museum in Köln, den 25. die Kunsthalle Emden und das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt immerhin den 20.

Auf den ersten Blick eine Erfolgsgeschichte: Deutsche Museen verzeichnen jährlich konstant über einhundert Millionen Besucher, 2009 war es die zweithöchste Besucherzahl seit Beginn der statistischen Gesamterhebung vor dreißig Jahren. Allerdings: Während in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Besuche um rund zehn Prozent anstiegen, wuchs im gleichen Zeitraum die Anzahl der Einrichtungen um ein gutes Drittel, auf derzeit 6256 Museen und 486 Ausstellungshäuser.

Die Hauptsorge der Museen dreht sich heute um Wasser, Strom, Heizung

»Was im alten Europa die Kirchen waren – Gelegenheit zu Prachtbauten, die den Namen des Architekten berühmt machten –, das sind jetzt die Museen«, stellte dazu im Mai dieses Jahres Martin Mosebach fest. Es scheine manchmal, so spöttelte der Schriftsteller in seiner Rede zur Wiedereröffnung des Museum Kunstpalasts in Düsseldorf über die vielen, nicht selten spektakulären Neubauten, als genüge sich der Museumsbau selbst, als sei er die eigentliche Sensation: »Die Exponate vermögen da eigentlich nur noch zu stören.«
Tatsächlich stehen die Sammlungen als eigentliche Kernaufgabe des Museums immer häufiger im Schatten der Aufmerksamkeit, die Architektur und Sonderausstellungen genießen. Unter dem Druck der Haushaltspläne drohen Museumsschließungen und der Verkauf von Museumsinventar, es steigt die Abhängigkeit von Drittmitteln und von privaten Sammlern. Schon vor einigen Jahren ist die »Boom-Krise« benannt worden. Der Journalist Hanno Rauterberg etwa sah 2006 die Museumslandschaft in einen »Museumsdschungel«, einen »Urwald des Schönen und der Erinnerung« verwildert. Denn viele Kommunen hätten zwar Geld für Planung und Bau, die Mittel für das Gehalt der Mitarbeiter oder die Heiz- und Sicherheitskosten würden aber fehlen: »Und so wird teuer gebaut und billig betrieben.« Der Direktor des Leipziger Museums der bildenden Künste Hans-Werner Schmidt sah angesichts enormer Betriebskosten gar die museale Trias aus Sammeln, Bewahren und Erforschen ersetzt durch: »Wasser, Strom, Heizung«.
Der gefeierte Neubau des Essener Folkwang-Museums kostete 55 Millionen Euro, bezahlt wurde er komplett von der Krupp-Stiftung als private Schenkung. Aber die Stadt muss nun für die gestiegenen Unterhalts- und Betriebskosten aufkommen. An welcher Stelle im städtischen Haushalt dieser Betrag eingespart wird, ist noch völlig offen: im Kulturetat bei anderen Einrichtungen – Oper, Theater, Ballett, Bibliotheken? Oder bei Schul- oder Sozialausgaben? Angesichts solcher Szenarien plädiere ich für die Selbstverpflichtung von Bund, Ländern und Kommunen, Neubauten von Museen – wie übrigens auch Neubauten von Bibliotheken, Konzerthäusern und Theatern – nur dann zuzulassen, wenn zugleich die sich daraus ergebenden jährlichen Folgekosten geregelt sind. Wo dies unterbleibt, geht der Neubau entweder auf Kosten anderer bereits existie¬render (Kultur-)Einrichtungen oder aber er muss durch eine Ausdünnung des Arbeitsprogramms eben derjenigen Institution selbst refinanziert werden, deren Arbeitsbedingungen man eigentlich spektakulär verbessern wollte.
Der Deutsche Museumsbund appelliert gern an das Bekenntnis zum Museum durch die Zivilgesellschaft, so wie man es in Hamburg angesichts der drohenden Schließung des Altonaer Museums erlebt hat. Die Verankerung des Museums in der Bürgergesellschaft gehört zu seiner Genese und ist in Zukunft genauso wichtig wie einst. Man muss gelegentlich daran erinnern: Die reiche deutsche Museumslandschaft ist das Resultat einer glücklichen Verbindung von privatem und öffentlichem Engagement. Deshalb steht die öffentliche Hand weiter in der Verantwortung, Museen finanziell so auszustatten, dass neben Betrieb und Ausstellen auch die Sammlungspflege möglich ist. Denn der Zweck eines Museums ist der kontinuierliche und sinnvolle Ausbau seiner Bestände. Dies gilt gerade auch für Museen der Gegenwartskunst.

Die Museumsrealität sieht oft anders aus. So verfügt etwa das Museum für Moderne Kunst Frankfurt über keinen festen Ankaufs- und Ausstellungsetat und ist auf Spenden und Schenkungen angewiesen. Gleiches gilt in der Hauptstadt für die Berlinische Galerie, deren Wirtschaftsplanung kein Budget für Ankäufe vorsieht. Beides sind keine spektakulären Ausnahmen, andere Museen sind in vergleichbarer Lage. Eine aktuelle Umfrage der Zeitschrift Art unter deutschen Kunstmuseen offenbarte, dass jedes Museum unter anderen Bedingungen sammelt. Über feste Budgets verfügen noch am ehesten kleinere Häuser, wohl auch deshalb, weil sie es sehr viel schwerer haben, zusätzliche private Mittel über Sponsoren zu beschaffen. Dass es übrigens bislang keine Statistik darüber gibt, wie sich die Ankaufsetats in den Jahrzehnten des Museumsbooms entwickelt haben, ist ein aufschlussreiches Defizit.
Einen Eindruck von der aktuellen Schieflage in den Museen vermittelt jedenfalls ein Blick in die Geschichte: Bei den Königlichen Museen in Berlin betrug der Ankaufsetat 1876 noch stolze 53 Prozent des gesamten Haushalts; im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg war es immerhin noch ein Anteil von mehr als einem Viertel. Heute hingegen machen bei den Staatlichen Museen zu Berlin die Mittel für den Erwerb von Kunstwerken, Büchern, Restaurierungen und Untersuchungen keine fünf Prozent an den jährlichen Gesamtkosten aus. Die Nationalgalerie mit ihren sechs Häusern verfügt 2011 über ganze 65.000 Euro für Erwerbungen – das sind gerade einmal 1,2 Prozent der Sachkosten für Betrieb und Unterhalt der Gebäude, die hohen Ausgaben für Personal noch nicht einmal eingerechnet. Die Zuwendungen für die staatlichen Museen und Sammlungen in Bayern wiesen in den vergangenen Jahren eine Steigerung bei allen Posten aus – allein der für Neuerwerbungen brach ein, von 3,17 Millionen Euro 2002 auf aktuell rund 600.000 Euro. Bei den Staatsgemäldesammlungen im Freistaat überstiegen 2008 die Betriebs- und Personalkosten das Budget für Ankäufe um das Elf- beziehungs-weise Zwölffache, im Jahr zuvor sogar um das 46- beziehungsweise 57-Fache. Wir haben vielerorts inzwischen groteske Disproportionen zwischen Bau- sowie Unterhaltungskosten und den Ankaufsetats.
Bedeutende Sammlungen, deren Aufbau sich zum großen Teil Schenkungen von Mäzenen verdankt, werden sich auch in Zukunft nur in einer Kombination aus öffentlichen Geldern, etwa denen der Kulturstiftung(en) der Länder, eingewor-benen Drittmitteln und Gaben privater Sammler ausbauen lassen, erst recht angesichts der Preisentwicklung auf den Kunstmärkten. Der spektakuläre Verkauf der Holbein-Madonna an einen Privatsammler hat unlängst die begrenzten Möglichkeiten öffentlicher Museen bei wirklich herausragenden Werken gezeigt. Eine verlässliche Dotierung, wenn schon nicht eine spürbare Erhöhung der Ankaufsetats, würde den Handlungsspielraum jedenfalls wesentlich erweitern. Beim Verkauf der Holbein-Madonna hatten selbst 40 Millionen Euro, die zuvor vom Frankfurter Städel im Zusammenwirken aus öffentlicher Hand, Museums-verein und Mäzenen geboten worden waren, nicht zum Ankauf dieses bedeutenden Kulturgutes in den öffentlichen Besitz ausgereicht.

Sich weiter in die Abhängigkeit privater Sammler zu begeben mag verlockend sein, allerdings können dann die Privatsammler ihre Bedingungen diktieren. Der kurzfristige Abzug bedeutender Privatsammlungen, etwa in Bonn und in Frankfurt, lehrt jedenfalls, dass die Akquise privater Sammlungen ein Weg mit Risiken ist. Er ist deshalb ganz sicher nicht der Königsweg aus der Zwangslage knapper Etats. Die seltene Ausnahme von der Regel ist das Museum Burda in Baden-Baden, das vom Stifter nicht nur privat finanziert, sondern auch aus eigenen Mitteln unterhalten wird.

Neugründungen nehmen den alten Häusern die Luft zum Atmen

Das Wort von der »Refeudalisierung« der Kunst macht bereits die Runde. Beispiel München: Der Sammlung Udo und Anette Brandhorst finanzierte der Freistaat Bayern für 48 Millionen Euro den spektakulären Museumsneubau in exponierter Lage – und er trägt heute den Unterhalt mit Personal- und Betriebskosten. Das neue Haus kann bei seinen Ankäufen auf Erträge aus dem von Brandhorst eingebrachten Stiftungsvermögen von 120 Millionen Euro zurückgreifen. Den benachbarten Häusern der Bayerischen Staatsgemälde¬sammlung, darunter die Alte und Neue Pinakothek und die Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne, stehen hingegen 2011 schmale 49.050 Euro Erwerbsmittel an öffentlichen Geldern zur Verfügung.
Hier entwickelt sich zwangsläufig ein Verdrängungsmechanismus, bei dem Neugründungen den Kernauftrag des Sammelns, Bewahrens und Forschens in bestehenden Einrichtungen gefährden. In einer verhängnisvollen Spirale kommt es zu einem paradoxen Ergebnis: Der Drang nach immer mehr »Museen« trägt den Zwang zu immer weniger Museum in sich. Ein Klärungs- und Bereinigungsprozess ist hier dringend geboten. Mehr noch: völlig unverzichtbar angesichts der immensen Bedeutung, die den kulturellen Überlieferungen und der Erinnerung bei der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft zukommt. Wir brauchen starke öffentliche Institutionen, die aus sich heraus, aus ihren Sammlungen, die Schätze der Vergangenheit zum Glänzen bringen können – und dem Leben damit Farbe geben.


Quelle: DIE ZEIT, 29.12.2011


Mehr über Norbert Lammert erfahren Sie hier...

impressum  
© 2001-2024 http://norbert-lammert.de